Übers Weitwandern

Wenn ich anderen von meiner Leidenschaft des Weitwanderns erzähle, gibt es zwei typische Reaktionen: die romantisch verklärte und die verständnislos kopfschüttelnde. 

Die romantisierenden Vertreter kommen ins Schwärmen. Sagen mir, was für interessante Begegnungen ich haben müsse. Dass das wohl eine Reise zu mir selbst sei. Dass das ein großes Abenteuer sein müsse und dass sie sich das nicht zutrauen würden.

Die Verständnislosen sagen, dass ihnen das zu langweilig sei. „Was passiert denn da?“ Und: „Man will doch auch mal ankommen.“ Und: „Ich fahre lieber Fahrrad!“

Meine Antwort an Letztere: Ich bin nicht charakterstark genug, um lange Strecken mit dem Fahrrad zu fahren. Ich habe das in meiner Jugend versucht. 1991 bin ich von Lüneburg nach London und 1992 von Lüneburg durch Polen, Litauen, Lettland nach Estland, irgendwo nach hinter Tallinn geradelt. Die baltischen Staaten wollten damals gerade aus der Sowjetunion raus. Als ich abreiste, reisten die Russen mit Panzern ein.

Ich habe es also versucht, aber es ist nicht meins. Ich trete in die Pedalen, bis ich Geschwindigkeit aufgenommen habe. Dann will ich den Erfolg sofort genießen und lasse mich ausrollen, bis ich fast umfalle. Ja, ich habe die Frage, ob ich im Grunde ein fauler Hund bin, noch nicht abschließend beantwortet.

Beim Wandern kann ich nicht faul sein. Beim Wandern kann ich mich nicht ausrollen lassen. Wenn ich nicht einen Fuß vor den anderen setze, nennt man das Stehen.

1995 bin ich zu meiner ersten Weitwanderung aufgebrochen. Von Lüneburg nach Stuttgart. Vier Wochen gerade Strecke. Ich wollte mal Pastor werden und dafür habe ich in Stuttgart Griechisch und Hebräisch gelernt. Auf dem Weg dahin habe ich in Pfarrhäusern, Bushäuschen und auf dem freien Feld geschlafen.

Ich bin übrigens mit einem Fellaffen gewandert, aber schon damals leicht und nur mit dem Allernötigsten.

Das Schlimme ist, die Kopfschüttler haben recht. Oft ist es auf einer Weitwanderung unerträglich langweilig. Und den Vertretern der Romantik muss ich bedauerlicherweise sagen, dass ich mehr interessante Begegnungen in der Kneipe oder bei Aldi an der Kasse hatte als allein in den Bergen. Für interessante Begegnungen ist es daher entscheidend, welchen Weg man wählt.

Ich liebe es, während des Weges allein zu sein. Ich brauche die Gesellschaft am Abend. Meine Pyrenäen-Wanderung habe ich abgebrochen, weil ich die Einsamkeit der Abende nicht ausgehalten habe.

Ich habe auf meinen Wanderungen keine Erleuchtung gehabt, Gott gesehen oder im Anschluss mein Leben komplett umgekrempelt. Derartige Heilserwartungen halte ich für überhöht. Den Jakobsweg bin ich nie gegangen.

Also, warum mache ich das? Es ist die Kombination aus dem anspruchsvollen großen Projekt der langen Strecke und der Einfachheit der täglichen Aufgabe, von A nach B zu gehen. Für mich muss eine Wanderung einen Start- und einen Endpunkt haben. Hin und zurück ist für mich ein Spaziergang, keine Wanderung. Von A nach B. Das ist alles, was man am Tag machen und schaffen muss. Das entspannt mich. Tag für Tag von A nach B. Wie ein Mantra.

Für mich muss eine Wanderung lang sein. Weil das Glücksgefühl unglaublich ist, wenn ich nach einem Monat so fit bin, dass ich über die Berge laufen kann, als ob es die flache Ebene sei. Weil ich es geil finde, meinen sonst trägen Körper dazu zu bringen, jeden Tag fast einen 3/4 Marathon zu gehen, weil ich etwas mache, was andere nicht machen und worauf ich unendlich stolz bin. Ganz leise gebe ich damit an. Ok, mit der Erstellung dieses Blogs vielleicht etwas lauter. Habe ich damit schon einmal eine Frau rumgekriegt? Nein.

Aus der Eintönigkeit der Wanderung heraus werden kleine Ereignisse, der Sonnenaufgang, die Gewitterwolke, das Panorama wie ein großes Ereignis wahrgenommen. Ich kann diese Momente des Glücks aber nicht teilen. Was soll mein Gegenüber auch sagen, wenn ich davon berichte, dass mir eben eine schwarze Nacktschnecke über den Weg gelaufen ist und nicht wie letzte Woche eine braune oder vorletzte Woche eine getigerte.

Die Romantikerin erwartet einen Bären, einen Wolf oder wenigstens einen Elch. Und die Kopfschüttlerin wendet sich endgültig gähnend ab. Beiden fehlen die Hormone, in denen ich bade, wenn ich nach Stunden des Laufens auf die Schnecke treffe. Es ist ein einsames Glück. Es ist aber eines, das ich mir selbst machen kann.

PS: Hirsche, Schwarzstörche, Schwarzspechte, Kreuzottern, Ringelnattern, Feuersalamander und einen Luchs habe ich bisher gesehen


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